Projektrecherchen über das Römische Imperium und seine Nachbarn, Persönlichkeiten und Gesellschaft
Freitag, 27. August 2021
Kaiser Tiberius: Tacitus hat das Wort
Publius Cornelius Tacitus war wohl der berühmteste Historiker im alten Rom. Seine politische Karriere begann unter den Flaviern. Im Jahr 112, unter Kaiser Trajan, war er Prokonsul von Asia. Jenes Amt war Höhepunkt und Abschluss der Laufbahn eines Senators. Seinen literarischen Ambitionen war Tacitus in seiner Freizeit nachgegangen und nach dem Rückzug aus der aktiven Laufbahn konnte er sich ihnen mit ganzem Eifer widmen. Einen Teil seiner Werke verfasste er in Trajans letzten Jahren und unter Hadrian, in einer Zeit, als das Principat, die Monarchie, bereits fest etabliert war. Und manche Textstellen lassen Vermutungen zu, Tacitus könnte mit Äußerungen über Augustus und Livia Parallelen zu Trajan und Plotina ziehen, und der ungeliebte Nachfolger Tiberius, der manch unpopuläre Maßnahme durchsetzen musste, ließ Zeitgenossen vielleicht an Hadrian denken.
"Daher mein Entschluss, … sodann die Herrschaft des Tiberius und die die Folgezeit zu berichten, ohne Gehässigkeit und Parteinahme, deren Ursachen mir fernliegen". (Tacitus, Annalen, I,1.)
Jeder, der sich schon eingehend mit Tacitus und dessen Geschichtsschreibung befasst hat, kennt diese Worte aus den „Annalen“. Bei all seinem Geschick, dem Text den Anschein der Objektivität zu geben, verstand Tacitus es sehr gut, durch Andeutungen, das Einstreuen von Gerüchten und die Widergabe von Meinungen bestimmte Eindrücke bei den Lesern zu erzeugen.
Als Augustus in hohem Alter starb, hatten die Senatoren ihre Befürchtungen, was nun folgen würde. "Tiberius Nero sei zwar reif an Jahren, bewährt im Kriege, aber voll des alten, dem claudischen Geschlechte angeborenen Stolzes, viele Anzeichen von Grausamkeit, so sehr er sich bemühte sie zu unterdrücken, brächen schon hervor. Er sei ja auch von frühester Kindheit im Herrscherhaus aufgezogen, mit Konsulaten und Triumphen als Jüngling überschüttet worden; nicht einmal in den Jahren, in welchen er zu Rhodus, unter dem Scheine der Zurückgezogenheit als Verbannter lebte, habe er auf etwas anderes als auf Groll, Verstellung und geheime Lust gesonnen. Dazu komme seine Mutter mit der Herrschsucht eines Weibes. " Annalen, I,4
Tiberius zögerte im Senat, die Alleinherrschaft zu übernehmen. Er äußerte, nur einen Teil der Aufgaben ausüben zu wollen und schien ernsthaft die Verantwortung teilen zu wollen. Konnte man ihm glauben? Ich sehe keinen Grund, dies nicht zu tun. Tiberius hat mehrmals auf sein vorgerücktes Alter hingewiesen und auch Rücktrittsgedanken geäußert. Sollte das alles nur vorgetäuscht sein? Eine andere Frage ist, ob eine Teilung der Macht nach all dem, was geschehen war, überhaupt realistisch sein konnte. Die Mehrzahl der Senatoren zweifelte wohl daran:
"Auch Quintus Haterius und Mamercus Scaurus verletzten sein argwöhnisches Gemüt, Haterius, indem er sagte: "Wie lange wirst du dulden, Caesar, dass dem Staat das Haupt fehle?... und ermüdet durch das Geschrei aller, durch die zudringlichen Bitten einzelner, gab er allmählich nach. … Es ist bekannt, dass Haterius, als er, um Abbitte z tun, in den Palast gegangen und zu den Füßen des auf und ab wandelnden Tiberius hingesunken war, fast von den Soldaten getötet worden wäre, weil Tiberius zufällig oder durch die Arme desselben behindert hingefallen war. " (Annalen, I, 13)
Was hier als Starrsinn und Ungnade überliefert wird, war de facto fast eine Beleidigung des Princeps durch Haterius. Der Fußfall vor dem Kaiser war in Rom zu dieser Zeit absolut unüblich, und es war noch provozierender, da es durch einen Senator geschah. Eine Anlehnung an das verhasste Gottkönigtum des Orients – Haterius hatte jegliches Maß verloren. Der durchgeknallte Caligula und später Domitian führten solche Sitten ein. Tiberius wehrte dieses Attentat an kriecherischer Unterwerfung sofort ab, wobei er selbst stürzte – was die Palastwachen nervös machte. Zum Glück geschah Haterius dann doch nichts.
"Waren doch des Tiberius Worte auch bei Dingen, die er nicht verheimlichen wollte, sei es von Natur oder durch Gewöhnung, stets verdreht oder dunkel. Damals aber (nach dem Tod des Augustus), als er es darauf anlegte, seine Gesinnungen auf das Tiefste zu verbergen, wurden sie noch mehr in Ungewissheit und Zweideutigkeiten verstrickt." (Annalen I, 11)
Daraus kann man entnehmen, dass sich Tiberius mitunter nicht klar ausdrücken konnte, was aber keinen Mangel an Bildung offenbarte. Er war gebildet und belesen, beherrschte Griechisch ebenso gut wie Latein und umgab sich gerne mit Gelehrten. Man kann es als seine Schwäche bezeichnen, sich mit seiner Umgebung nicht immer gut verständigen zu können. Derartige Schwierigkeiten werden aber meist erlernt. Tiberius war weder gewandt, noch charmant, noch herzlich, und er wusste das. Er hatte dunkle und vielschichtige Gedankengänge. Aber es war nicht seine Absicht, seine Umgebung zu täuschen.
"Die Botschaft (von der Niederschlagung des Aufstandes in Germanien) erfüllte den Tiberius mit Freude und mit Sorge. Er freute sich, dass der Aufstand unterdrückt war; dass sich aber Germanicus durch Geldspenden und beschleunigte Dienstentlassungen um die Gunst der Soldaten beworben hatte und ebenso dessen Kriegsruhm beunruhigte ihn. Er berichtete jedoch im Senat von dessen Taten und redete mancherlei von seinen Verdiensten, allein mehr zum Schein und mit schönen Worten, als dass man sich dabei von seiner inneren Empfindung hätte überzeugen können. Kürzer sprach er über Drusus und die Beendigung der illyrischen Unruhen seinen Beifall aus, aber mit mehr Wärme und im Glauben erweckender Rede; und alles, was Germanicus bewilligt hatte, gewährte er auch den pannonischen Truppen. " (Annalen, I,52).
Sieh an, Tacitus gesteht Tiberius sogar Wärme zu! Die Würdigung des Germanicus war wieder einmal „mehr zum Schein“. Man mag sich nicht ausdenken, wie die öffentliche Reaktion gewesen wäre, hätte Tiberius vor allem Drusus und Germanicus hingegen nur wenig gelobt!
"Übrigens kam es Tiberius gar nicht ungelegen, dass solche Unruhen den Orient bewegten, um unter diesem Vorwande den Germanicus von den ihm vertraut gewordenen Legionen loszureißen, ihn über neue Provinzen zu setzen und so zugleich Unfällen und der Hinterlist bloßzustellen."
"In Rom herrschte, als Germanicus Krankheit bekannt geworden war und alles, wie gewöhnlich aus der Ferne, zum Schlimmeren vergrößert hinterbracht wurde, nur Schmerz und Zorn. Laut brachen die Klagen aus: deshalb also sei er in die äußersten Lande verwiesen, deshalb dem Piso die Provinz überlassen worden, das hätten Augusta (Livia) und Plancina bezweckt!" (Annalen I,82)
Livia und indirekt auch Tiberius wurden beschuldigt, Germanicus deshalb in den Orient geschickt zu haben, damit er dort Gefahren ausgesetzt wurde und Piso, ein Vertrauter des Tiberius, der Germanicus eigentlich unterstützen sollte, wurde des Giftmordes an Germanicus beschuldigt. Germanicus war eine Weile krank. Die Anschuldigungen entbehren jeder Grundlage. Ein Problem war allerdings das Verhältnis zwischen Piso und Germanicus, das eskalierte, wobei die Schuld nicht allein an Piso gelegen haben mag.
Die Vorwürfe gegen Tiberius und Livia waren unangemessen und absurd. Germanicus, den Tiberius adoptierte hatte, und Drusus, sein leiblicher Sohn, waren beide Nachfolgekandidaten des Kaisers. Dass Germanicus nun auch den Orient kennenlernen sollte, war absolut üblich. Ein Anwärter auf den Principat musste die wichtigsten Fronten des Imperiums aus eigener Anschauung kennen und sich dort bewährt haben. Piso sollte wohl Ratgeber wie auch Aufpasser sein, aber die beiden kamen nicht miteinander klar. Letzteres war schlecht, aber keine Intrige von Livia. Es war menschlich. Der frühe Tod des Germanicus war tragisch, aber die Lebenserwartung damals war nicht sehr hoch. Tödliche Krankheiten machten vor Angehörigen des Herrscherhauses nicht Halt.
Germanicus wurde unter großen Ehren bestattet. "Die Standbilder und die Orte seiner Verehrung möchte schwerlich jemand zählen können. Da ein Ehrenschild von Gold und ausgezeichneter Größe unter den Meistern der Beredsamkeit für ihn beantragt wurde, erklärte Tiberius mit Nachdruck, ein gewöhnliches und den übrigen gleichgestaltetes werde er ihm weihen; denn in der Beredsamkeit gewähre der Stand keinen Unterschied, und es sei Auszeichnung genug, wenn er unter den alten Schriftstellern seinen Platz erhielte. " (IV, 83)
Hier soll Tiberius als knauserig und missgünstig dargestellt werden (er verweigerte den goldenen, großen Ehrenschild), doch ihm ging es nur ums übliche Maß, das er nicht überschreiten wollte. Überhaupt: Germanicus war in erster Linie Politiker und nicht Schriftsteller.
„Übrigens brachte noch in der Zeit der ersten Trauer die Schwester des Germanicus, die dem Drusus vermählte Livia, zwei Knaben zugleich zur Welt. Dies seltene und auch in Familien des Mittelstandes freudige Ereignis erfüllte den Princeps mit so großer Freude, dass er sich nicht enthalten konnte, sich vor den Senatoren damit zu brüsten, dass früher noch keinem Römer von gleich hohem Range Zwillinge geboren seien, denn alles, auch zufälliges, legte er zu seinem Ruhme aus. Dem Volke aber war unter solchen Umständen auch dies ein Schmerz mehr, gerade als ob nun Drusus mit seinem Kindersegen umso mehr Germanicus Haus bedrängen würde.“ (IV 84)
"… (im Jahr 23) begann für Tiberius das neunte Jahr der öffentlichen Ruhe, der Blüte seines Hauses - denn den Tod des Germanicus rechnete er zu den glücklichen Ereignissen …" (IV, 1)
Eine Unterstellung, die man durchaus gehässig nennen kann.
"Vor allem also wurden die öffentlichen Angelegenheiten und die wichtigsten von denen der Privatpersonen im Senat verhandelt, und es war den Angeseheneren gestattet, sich auszusprechen. Und wo sie in Schmeichelei verfielen, tat er selbst Einhalt. Auch sah er bei Übertragung von Ehrenstellen auf den Adel der Vorfahren, auf Berühmtheit im Kriegsdienst, auf ausgezeichnete Eigenschaften in den Geschäften des Friedens, so dass man ziemlich gewiss sein konnte, es seien keine anderen würdiger gewesen. Es blieb den Konsuln, den Prätoren ihr Ansehen, auch die geringeren Beamten handhabten ihre Gewalt, und die Gesetze wurden, nahm man die Untersuchungen über Majestätsbeleidigungen aus, auf löbliche Weise ausgeübt. Freilich wurden die Getreidelieferungen, die Zollabgaben und die übrigen öffentlichen Einkünfte durch die Gesellschaften der römischen Ritter betrieben. Aber seine eigenen Vermögensangelegenheiten übertrug der Kaiser nur den bewährtesten, selbst einigen ihm unbekannten, ihrem guten Rufe folgend. Die einmal Angestellten wurden beibehalten ohne alle Einschränkungen, da die meisten in einem und demselben Geschäft zu Greisen wurden. Zwar seufzte das Volk unter schweren Getreidepreisen, aber keine Schuld traf dabei den Princeps: Ja, er suchte, soviel er durch Geldaufwand und Sorgfalt vermochte, der Unergiebigkeit des Bodens und den Unglücksfällen auf dem Meere zu begegnen. Auch sorgte er dafür, dass die Provinzen nicht durch neue Lasten in Aufruhr gebracht würden und dass sie die alten sich ohne Habsucht oder Grausamkeit der Beamten gefallen ließen. Körperliche Züchtigungen und Gütereinziehungen kamen nicht vor.
Nur hie und da besaß der Kaiser in Italien Ländereien; seine Sklaven waren bescheiden, die Hausverwaltung auf wenige Freigelassene beschränkt, und hatte er je einmal einen Streit mit Bürgern, so entschied das öffentliche Recht. (Annalen, IV, 8)
In diesem Abschnitt offenbaren sich die Verdienste des Tiberius. Ordnung, Stabilität und Gesetzestreue waren ihm wichtig.
"Wenngleich in keiner milden Weise, sondern rauh und meist gefürchtet, behielt er doch dies alles bei, bis es sich mit Drusus Tod änderte… " (IV, 7).
Tacitus verbreitete die Meinung, dass Drusus, der Sohn des Tiberius, vom Prätorianerpräfekten Seian vergiftet wurde. Ich lasse das hier unkommentiert.
"Tiberius ging indes alle Tage während seiner (des Drusus) Krankheit, nichts befürchtend, oder um seine Seelenstärke zu zeigen und auch als er gestorben und noch nicht bestattet war, in die Kurie, erinnerte die Konsuln, die sich zum Zeichen der Betrübnis auf gemeinem Sitz niedergelassen hatten, an ihre Würde und an ihren Platz und richtete den in Tränen zerfließenden Senat, nachdem er die Klagen desselben zum Schweigen gebracht hatte, zugleich auch durch eine zusammenhängende Rede auf: er wisse zwar wohl, man könne es tadeln, dass er sich in noch frischem Schmerze vor den Augen des Senats zeige; von den meisten Trauernden werde kaum der Zuspruch der Verwandten ertragen, kaum das Tageslicht angeblickt. Man dürfe sie doch deshalb nicht der Schwäche zeihen: er aber habe kräftigeren Trost in der Hingabe an den Staat gesucht. Dann beklagte er die hochbetagte Augusta (Livia), die unreife Jugend seiner Enkel, sein eigenes sich neigendes Lebensalter, und verlangte, dass des Germanicus Kinder, der einzige Trost im gegenwärtigen Missgeschick, hereingeführt würden." In der folgenden Szene werden Nero und Drusus (Söhne des Germanicus) von Tiberius dem Senat übergeben: das Hohe Haus soll zu ihren Mentoren werden, da Drusus ihnen entrissen wurde. (Annalen, IV, 8)
Drusus, Sohn des Tiberius, hatte die Söhne des Germanicus also in sein Haus aufgenommen und wie eigene Kinder erzogen.
"Übrigens nahmen der Senat und das Volk, während Tiberius seinem Sohn von der Rednertribüne die Leichenrede hielt, mehr aus Verstellung, als von Herzen Haltung und Sprache Leidtragender an und freuten sich im Stillen, dass das Haus des Germanicus neu emporwachse." (IV, 12)
"Indessen beschäftigte sich Tiberius in unausgesetzter Sorge für den Staat, wobei er die Geschäfte sich zum Trost gereichen ließ…" (IV, 13)
Tiberius hatte seine Art, mit Trauer und anderen Krisen umzugehen: er stürzte sich in die Arbeit.
"Dasselbe Jahr brachte dem Kaiser noch andere Trauer, weil es den einen von Drusus Zwillingssöhnen hinraffte, und nicht minder durch eines Freundes Tod. Dieser war Lucilius Longus, in allen Leiden und Freuden sein Gefährte und von allen Senatoren sein einziger Begleiter in die Abgeschiedenheit auf Rhodus". (IV, 14)
Erst starb der Sohn, dann einer der beiden Enkel, schließlich sein bester Freund. Mit diesem Hintergrund wird der Rückzug des Kaisers teilweise verständlich. Er resignierte und vereinsamte - und schenkte Seian mehr Vertrauen, als gut für alle war.
Wie man den Worten des Tacitus entnehmen kann, war Tiberius (und darin stimmen auch moderne Historiker überein) kommunikativ eher ungeeignet für das höchste Amt des römischen Reiches. Er konnte nicht gut und schlüssig vermitteln, was ihm am Herzen lag.
Es ging Tiberius, meine ich, aber nicht darum, seine Umgebung über seine wahren Gedanken und Absichten zu täuschen oder im Unklaren zu lassen. Er war eine vielschichtige Persönlichkeit: stolz und bescheiden, eigenwillig und hingebungsvoll, streng und großzügig - er sprach und dachte nicht nur das Sowohl als Auch, sondern er war sowohl als auch. Dass er sensibel und empfindlich - und eben auch empathisch war, zeigt sich in seinem Verhalten und in manchen Aussagen, wie beispielsweise bei seiner Ansprache im Senat nach dem Tod seines Sohnes Drusus. Ihm war bewusst, dass die Menschen sein Verhalten missverstehen würden, und er versuchte, sich zu erklären. Er wusste, wie andere trauerten, und offenbarte, dass ihm die Flucht in die Arbeit, in den Staatsdienst der beste Trost in der Trauer war. Gleichzeitig war er sensibel genug, um diejenigen, die sich in ihrer Trauer völlig zurückzogen, ebenfalls zu verstehen.
Seine Sensibilität hat ihn frühzeitig erkennen lassen, dass er nicht beliebt war. Nicht bei seinem Stiefvater Augustus, der ihn lediglich wegen seiner Nützlichkeit schätzte und lieber einen Anderen zum Nachfolger designiert hätte, wenn nicht alle Wunschkandidaten früh gestorben wären. Nicht beim Senat, dessen Vertreter zwar der Republik nachtrauerten, die aber auch zu furchtsam waren, um des Kaisers Angebot, Verantwortung abzugeben und mit ihnen zu teilen, anzunehmen. Nicht beim Volk, das den jungen, strahlenden Helden Germanicus liebte und ihm, Tiberius, zeit seines Lebens Feindseligkeit der Familie des Germanicus gegenüber unterstellte. Nicht bei den Soldaten, denn auch sie liebten Germanicus - doch genoss er bei ihnen Respekt, den er sich durch seine Fähigkeiten als Heerführer verdient hatte. In kriegerischen Auseinandersetzungen kam es stärker als im zivilen Leben auf Tüchtigkeit an; Selbstdarstellung und Schauspielerei waren an den Fronten Pannoniens und Germaniens eher verzichtbar.
Beim Lesen der Annalen verstärkte sich mein Eindruck: Was Tiberius auch sagte und tat, es wurde ihm fast immer zum Nachteil ausgelegt. Germanicus wurde nach seinem Tod geehrt, und doch war es vielen Zeitgenossen zu wenig der Ehre. Beim Einzug von Agrippina in Italien und Rom zeigte Tiberius sich nicht in der Öffentlichkeit. Wäre er öffentlich aufgetreten, hätte sein Verhalten Missfallen erregt. Dass er nicht öffentlich auftrat, wurde ihm auch übel genommen.
Die Worte, mit denen Tiberius seine Großneffen Nero und Drusus im Senat empfahl, zeigen, dass die Familie des Germanicus auch seine Familie war. Der frühe gewaltsame Tod der beiden jungen Männer gehört zum düsteren letzten Kapitel der Herrschaft des Tiberius. Ob es wirklich eine Verschwörung um Agrippina und die beiden Söhne gab, oder ob sie einer Intrige Seians zum Opfer fielen, lässt sich nicht mehr feststellen.
Von Anfang an stand die Regierung des Tiberius unter keinem guten Stern. Es war ihm selbst bewusst, dass er nicht über das diplomatische Geschick und die Autorität des Augustus verfügte, ebenso wenig wie über dessen Gabe, die Menschen zu berühren und für sich zu gewinnen. Dieses Wissen mag ihn auch zeitlebens gehemmt haben. Faktisch aber - und das müssen auch die antiken Quellen zugeben - war seine Regierung verantwortungsvoll und eine Phase der Stabilität.
Ich möchte mich gar nicht darüber verbreitern, was für ein Kaiser Germanicus wohl geworden wäre, hätte er länger gelebt. Vielleicht ein zweiter Augustus, vielleicht auch ein weiterer Caligula.
Tacitus charakterisiert Tiberius als argwöhnisch, hintersinnig, grausam, als einer, der seine Umgebung regelmäßig über seine wahren Absichten täuschte. Doch gleichzeitig wusste der Historiker angeblich genau, was jenen Kaiser im Innersten bewegte?
Das Bekenntnis des Tacitus "ohne Gehässigkeit und Parteinahme" über die frühe Kaiserzeit zu schreiben, ist wiederholt kritisiert worden. Tacitus war parteilich. Er repräsentierte jene Stimmung im Senat, die die Monarchie im Grunde verabscheute und besonders die frühen Kaiser nach Augustus dafür verurteilten, dass sie die Alleinherrschaft übernommen hatten. Augustus nahm eine gewisse Ausnahmestellung ein, doch als nach ihm Tiberius die Macht erbte und der Senat dies bestätigte, angeblich, weil er keine andere Wahl hatte, wurde diese Konstellation für den zweiten Princeps zur schweren Hypothek. Das Bewusstsein setzte sich durch, dass aus der Republik eine Erbmonarchie geworden war. Augustus, der Wegbereiter, war sakrosankt und der unterschwellige Hass traf seinen Nachfolger.
Die Annalen sind zweifellos eine wertvolle geschichtliche Quelle, aber sie sind, wie alle Quellen, mit Vorsicht zu lesen.
Literatur:
Publius Cornelius Tacitus: Sämtliche Werke, Magnus Verlag, Essen, 2004, ISBN 3-88400-005-5
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