Freitag, 17. September 2021

„In einem freien Staat müssen Zunge und Meinung frei sein“ – Sueton zitiert Tiberius

C. Suetonius Tranquillus, abgekürzt Sueton, lebte Ende des ersten und Anfang des zweiten Jahrhunderts – wie auch Tacitus, den er wahrscheinlich kannte. Sueton gehörte dem Ritterstand an. Seine Familie hatte enge Beziehungen zum Kaiserhaus. Während seiner Laufbahn wurde er von seinem Freund und Förderer Plinius dem Jüngeren unterstützt. Er trat in den Dienst Kaiser Trajans, wo er sich wahrscheinlich um Archive „a studiis“ kümmerte; später oder gleichzeitig übernahm er die Aufsicht über die öffentlichen Bibliotheken Roms und wurde schließlich Kanzleichef Kaiser Hadrians. Seine Kaiserbiografien sind eine wichtige Quelle. Sueton hatte Zugang zu Briefen und Senatsprotokollen, und er orientierte sich stark am Geschmack der Leser, die Klatsch und Skandalgeschichten liebten. Er überliefert bemerkenswerte Aussprüche des Tiberius.

Aber zunächst zitiert er Augustus‘ Worte an Tiberius, um zu belegen, dass dieser seinen Nachfolger nicht nur geschätzt, sondern auch geliebt hat.

Bei dessen Adoption versicherte er „er adoptiere ihn einzig aus Rücksicht auf das Beste des Staates“ und nannte ihn in mehreren Briefen „den erfahrendsten Feldherrn und die einzige Stütze des römischen Volkes“.

Es folgen Ausschnitte aus persönlichen Briefen:

„Leb wohl, mein liebster Tiberius, und das Glück sei mit deinen Unternehmungen für mich wie für die Musen, du trefflichster aller Feldherren!“

„Geliebtester und so wahr ich glücklich zu sein wünsche, tapferster Mann und vollendetster Feldherr, lebe wohl!“

„So oft etwas passiert, das mein ganzes Nachdenken in Anspruch nimmt, und so oft ich mich über etwas sehr zu ärgern habe, sehne ich mich, so wahr mir Hercules helfe, nach meinem teuren Tiberius, und es fällt mir dann der homerische Vers ein: Wenn mich dieser geleitet, sogar aus flammendem Feuer kehrten wir beide zurück: so weise versteht er zu raten.“

„Wenn ich höre und sehe, dass du durch die fortgesetzten Strapazen ganz herunter bist, so schaudere ich … am ganzen Körper zusammen. Ich bitte, schone dich doch, damit nicht die Nachricht, dass du krank liegst, mir und deiner Mutter den Tod zuführt und das römische Volk für die Existenz seines Reiches zittern muss …“

Ein bisschen theatralisch war der damalige Briefstil schon, und die alten Römer liebten Superlative, die wir heute nicht mehr gebrauchen würden.

Aber Sueton lässt auch Tiberius selbst zu Wort kommen, er verfügte über reichlich Material in den Archiven.

Als er römischer Kaiser war, soll er oft gesagt haben, er „halte einen Wolf bei den Ohren“.

Bei Schmähungen und Spottgedichten blieb er zunächst gelassen. „In einem freien Staate müssen Zunge und Meinung frei sein“, sagte er im Senat.

Und als der Senat in solchen Fällen gerichtliche Untersuchungen anordnen wollte, antwortete er: „Wir haben nicht soviel Zeit übrig, um uns in noch mehr Geschäfte verwickeln zu dürfen. Wenn ihr einmal dies Fenster aufmacht, so werdet ihr bald nichts anderes zu tun haben. Alle Privatfeindschaften werden unter diesem Vorwande den Weg zu uns finden.“

Einem anderen Senator widersprach er mit folgenden Worten: „Habe die Güte, mir zu verzeihen, wenn ich, als Senator, mich etwas zu frei gegen dich geäußert habe.“

Und an den versammelten Senat gewandt, fügte er hinzu: „Ich habe es jetzt und sonst öfters, versammelte Väter, ausgesprochen, dass ein guter und das Gemeinwohl im Herzen tragender Regent, den ihr mit so großer und so unbeschränkter Machtvollkommenheit bekleidet habt, die Pflicht habe, dem Senate und in vielen Fällen der gesamten Bürgerschaft und häufig auch einzelnen ein treuer Diener zu sein. Und diese Äußerung bereue ich keineswegs; ich habe an euch bisher immer gute und geneigte Herren gehabt.“

Sueton bevorzugt es, die Regierungszeiten der Kaiser in Phasen zu unterteilen. Hier geht es um die guten Jahre des Tiberius.

Den Statthaltern, die ihm vorschlugen, die Steuern in den Provinzen zu erhöhen, antwortete er „ein guter Hirte dürfe seine Schafe wohl scheren, aber nicht schinden“.

Tiberius bekannte „er werde sich selbst immer gleich bleiben und seinen Charakter nie ändern, solange er bei gesunder Vernunft bleibe; allein um des Beispiels willen müsse vorgesorgt werden, dass der Senat nicht zur Anerkennung aller Handlungen irgend eines Menschen sich verbindlich mache, der ja durch irgend einen unglücklichen Zufall verändert werden könne.“

„Wenn ihr einmal an meinem Charakter und meiner Hingebung für euch irre werden solltet – ein Unglück, dem ich lieber durch frühzeitigen Tod entzogen zu werden wünschen würde – so wird mir der Titel „Vater des Vaterlandes“ keine Erhöhung der Ehre, für euch dagegen ein Vorwurf sein, dass ihr mir diesen Beinamen entweder damals ohne Grund erteilt oder euer Urteil später leichtsinnig über mich geändert habt.“

(Zitate aus Suetons Kaiserbiografien, „Tiberius Nero Cäsar“)

Sueton und wohl auch andere Zeitgenossen glaubten, dass Tiberius, der sich viel mit Astrologie beschäftigte und ihrer Meinung nach die Gabe hatte, Dinge vorherzusehen, seine spätere Verdüsterung, Vereinsamung und Grausamkeit ahnte und deswegen Ehrungen wie den Titel „Vater des Vaterlandes“ ablehnte. Diese Interpretation steht doch im Gegensatz zur Versicherung des Kaisers, er werde sich nie ändern! Ich meine: Tiberius hielt Augustus für denjenigen, dem der Titel einzig zustand. Spätere Kaiser dachten darüber anders.

Bemerkenswert ist der Ausspruch des Tiberius, als er die Öffentlichkeit ermahnte, nach dem Tod des Germanicus und der Zeit der Trauer „müsse man dem Geist wieder festen Halt geben: Fürsten sind sterblich, nur der Staat ist ewig“. (Tacitus, Annalen, III,6)

Sueton überliefert auch, wie wir uns den Kaiser vorstellen können:

„Sein Körperbau war stark und kräftig, von Wuchs über Mittelgröße hinaus. Brust und Schultern waren breit und auch die übrigen Glieder bis zu den Füßen hinab wohlproportioniert. Seine linke Hand war die geschicktere und stärkere und deren Gelenke so fest, dass er einen frischen und unversehrten Apfel mit dem Finger durchbohrte und den Kopf eines Knaben und selbst auch eines Erwachsenen durch ein Schnippen mit zwei Fingern verwundete. Er war hellhäutig. Sein Haar war am Hinterkopf länger, so dass es seinen Nacken bedeckte, was eine Familieneigentümlichkeit (der Claudier) war; seine Gesichtsbildung edel, doch von häufigen Schwellungen entstellt… Er hatte sehr große Augen, mit denen er, was wunderbar war, auch bei Nacht und im Finstern sah, doch nur kurze Zeit … Er schritt einher mit steifem, nach hinten übergebogenem Nacken und meist immer scharfangestrafften Mienen. In der Regel schwieg er und sprach auch mit seiner nächsten Umgebung entweder gar nicht oder selten und in sehr langsam gezogener Rede, die er immer mit einer gewissen gezierten Bewegung der Hände begleitete (was schon Augustus gestört hatte).

Er erfreute sich einer höchst glücklichen Gesundheit … obschon er seit seinem dreißigsten Lebensjahr seine Lebensweise ohne Hilfe und Rat der Ärzte regelte.“

Auch hier zeigt sich die widersprüchliche Überlieferung. Die Berichte von Tiberius‘ letzten Tagen erwähnen einen Arzt, und die ganzen Ausschweifungen, die dem Kaiser angedichtet werden (im Widerspruch zu seinem sparsamen Haushalt, was ebenfalls überliefert ist), müssen übertrieben sein. Und manche körperliche Eigenheit klingt reichlich legendär, so seine Sehkraft im Finstern sowie die Kräfte, die er in Händen und Fingern hatte. Man sollte nicht jede Anekdote glauben, auch nicht bei Sueton.

Sueton erzählt, dass Tiberius sowohl die lateinische als auch die griechische Sprache und Literatur beherrschte – darauf werde ich später noch detailliert eingehen. „Doch er machte durch Affektation und ängstliche Wortklauberei seinen Stil dunkel, so dass er bedeutend besser aus dem Stegreif, als vorbereitet sprach.“

Das finde ich nun interessant. Man denkt an einen Perfektionisten, der sich spontan besser ausdrückte als nach gründlicher Vorbereitung. Doch Tiberius, man ahnt es, war lieber vorbereitet.

Während seines Rückzugs nach Capri – auch das ist ein Themenkomplex für sich – fand Tiberius keinen Frieden. Er war voller Ängste und Sorgen, teils verzweifelt und depressiv. Mit dem Senat kommunizierte er nur noch schriftlich: „Was ich euch schreiben soll, versammelte Väter, oder wie ich euch schreiben soll oder was ich überall nicht schreiben soll in meiner jetzigen Lage – mögen alle Götter und Göttinnen mich noch elender hinsterben lassen, als ich mich jetzt schon täglich hinsterben fühle, wenn ich es weiß.“

Der Senat wollte eine Abordnung zu ihm schicken, um ihn zu trösten, doch das lehnte er ab.

Die Persönlichkeit des Tiberius erschließt sich nicht mehr vollständig, trotz mancher Details, die überliefert sind. Sicher ist, dass man ihn noch schwieriger beurteilen kann als manch andere Persönlichkeit der Geschichte. Das ging schon seinen Mitmenschen so.

Literatur:

Suetons Kaiserbiographien, Langscheidtsche Bibliothek, Band 106, 1914

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