Freitag, 15. Oktober 2021

Die sexuellen Neigungen des Tiberius - Annäherung an ein schwieriges Thema

Die sexuellen Eskapaden des Tiberius datiert Sueton vor allem in die letzte Lebensphase des Kaisers, als er sich nach Capri zurückgezogen hatte. Sein Rückzug wurde auch als Wunsch geäußert, sich fern von Rom ungehemmt seinen grausamen und abartigen Neigungen hingeben zu können. Ich komme zu dem Schluss, dass man in Rom so dachte, weil es eben nahe lag: wer sich zurückzog, tat es, um etwas zu verbergen. Ich möchte nicht behaupten, an den Gerüchten sei gar nichts dran, aber sie verraten eben auch einiges über diejenigen, die sie verbreiteten.

Dass der Kaiser nicht nur den Stadtrömern, sondern auch den Bewohnern von Capri fremd und gefürchtet blieb, werde ich später noch genauer ausführen. Viele Orte der Insel sind mit seinen angeblichen sexuellen Perversionen und grausamen Hinrichtungen in Verbindung gebracht worden und so im Gedächtnis geblieben. Die Vorwürfe ihm gegenüber bezeichnen sexuelle Gewalt gegen Frauen sowie Kindesmissbrauch. Ich möchte an dieser Stelle nur erwähnen, dass Tiberius damals ein Greis von (über) siebzig Jahren war, womit er ein für die damalige Zeit außerordentlich hohes Alter erreicht hatte, und dass er der Überlieferung nach schon gebückt ging. Somit steht die Frage im Raum, ob er zu all den sexuellen Eskapaden, die ihm zugeschrieben wurden, physisch überhaupt in der Lage war.

Eine überlieferte Tatsache ist, dass Tiberius zweimal verheiratet war und den Quellen zufolge zwei oder sogar drei Kinder zeugte, von denen eins aber frühzeitig starb, was leider in der Antike keine Seltenheit war. Man kann aus seiner glücklichen Ehe mit Vipsania durchaus auf seine sexuelle Orientierung schließen. Ein Ausschlusskriterium für weitere Vorlieben ist das jedoch nicht.

Die erotische Erlebniswelt der Antike und vor allem der griechisch-römischen Oberschicht unterscheidet sich von der neuzeitlichen. Gerade über das antike Griechenland habe ich noch wenig Hintergrundwissen. Durch Zufall fiel mir ein ganz wunderbares Buch in die Hände, das ich an dieser Stelle empfehlen möchte. Tonio Hölscher: „Der Taucher von Paestum: Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland“. Gegenstand der Untersuchung ist ein Gemälde aus einem Grab in Paestum, griechisch Poseidonia, aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Es stellt einen Mann dar, der von einem Turm aus ins Wasser (Meer) springt. Mich faszinierte das Thema augenblicklich, weil ich in anderem Zusammenhang erfuhr, dass es in der Antike bereits Berufstaucher gab, die in Häfen versunkene Gegenstände bargen. Schwimmen gehörte zu den Grundfertigkeiten, die in der Antike gelehrt wurden. Der Autor weist nach, dass die Meeresstrände damals Treffpunkte der Jugend waren, wo man Spaß hatte, aber auch trainierte und Mutproben absolvierte. Körperliche Ertüchtigung und, wo möglich, Perfektion hatte einen hohen Stellenwert in der antiken griechischen Gesellschaft, vor allem in der Oberschicht.

Die jungen Männer trainierten für den Militärdienst und erwarben neben körperlicher Stärke auch mentale Fähigkeiten. Gepaart mit Bildung, Beredsamkeit und Mut bildete ein einnehmendes Erscheinungsbild die Grundlage für gesellschaftlichen Erfolg. Im Buch wird erwähnt, dass auch junge Mädchen sportlich waren, sogar Wettkämpfe absolvierten und sich, wen wundert es, darin übten, durch Anmut künftige Ehemänner auf sich aufmerksam zu machen. Treffpunkte junger Mädchen waren Haine und Grotten, die Göttinnen geweiht waren, aber auch Brunnen und Quellen, wo Wasser geholt wurde. Es gab geheime Badestellen, wo eben auch geschwommen wurde. Das Eintauchen ins Wasser hatte damals und hat auch heute noch eine erotische Komponente.

Die Insel Capri war von griechischen Kolonisten besiedelt worden, ehe die Römer sie in ihr Territorium eingliederten. Obwohl die Bewohner eher ein einfaches Leben führten, wird sich griechisch-antikes Lebensgefühl dort zumindest im Traditionsbewusstsein erhalten haben, als Augustus und Tiberius die Insel für sich entdeckten. Augustus liebte die Zweisprachigkeit und die Muße auf Capri. Die berühmte Blaue Grotte war bereits in der Antike bekannt und ein Nymphaeum. Man kann sich gut vorstellen, dass vor allem körperlich fitte junge Leute dort hineinschwammen, Mutproben absolvierten, aber auch Zärtlichkeiten austauschten. Da in Insel-Legenden Grotten und geheime Zugänge ins Meer als Orte der lasterhaften Ausschweifungen des Tiberius benannt werden, könnte die erotische Bedeutung solcher Orte ein Erklärungsansatz für jene Geschichten sein. Ein nettes Zusammentreffen ist die Tatsache, dass sich Paestum gar nicht so weit entfernt von Capri befindet.

Ob Capri wirklich die Lieblingsinsel des Tiberius war, darf angezweifelt werden. Sicher hat sie ihm gefallen, aber der Hauptgrund, weshalb er die Insel als Alters-/Regierungssitz auswählte, war wohl ihre strategische Lage. Er musste mit der Hauptstadt in Verbindung bleiben, sei es durch Boten oder Signale. Der Golf von Neapel wurde von der Flotte von Misenum kontrolliert, die ihm dort zur Verfügung stand. Ein weiterer Grund war die Infrastruktur: Augustus hatte dort mehrere Villen besessen, und nach seinem Tod hatte Tiberius nicht nur diese Villen, sondern die ganze Insel geerbt. Die antiken Quellen verweisen mit Recht auf das frühere, zunächst freiwillige Exil des Tiberius auf Rhodos. Die Familie der Claudier hatte Beziehungen nach Griechenland. Auch Augustus hielt sich mit Livia gern zeitweise auf Samos auf. Was das Exil auf Rhodos angeht, so berichten die Quellen, dass Tiberius dort zeitweise wie ein einfacher Bürger unter den Inselbewohnern lebte und gern im Gymnasion spazieren ging. Das liest sich so, als hätte er sich vorübergehend dort wohl gefühlt.

Gymnasien waren schon in der griechischen Antike Bildungsstätten, doch das Hauptaugenmerk lag in der körperlichen Ertüchtigung. In jenen Einrichtungen trainierten Knaben und junge Männer in verschiedenen sportlichen Disziplinen, die sie auf den Militärdienst vorbereiteten. Wettkämpfe wurden dort ausgetragen, es gab aber auch Bäder und später auch Säulenhallen für Vorträge sowie Bibliotheken. Gymnasien waren Stätten erotischer Kontaktanbahnung. In der antiken griechischen Gesellschaft wurden ältere, erfolgreiche Männer „Liebhaber“ und Mentoren der Knaben und jungen Männer. Diese Beziehungen wurden auch aus körperlicher Zuneigung eingegangen, doch gewaltsame Übergriffe waren davon ausgeschlossen und wurden streng bestraft.

Jene Tradition homoerotischer Beziehungen, die der Ausbildung und Integration junger Männer diente, lebte in der römischen Oberschicht weiter. Jeder römische Aristokrat hatte zu heiraten und für Nachkommen zu sorgen, doch die Vorliebe für Knaben und schöne junge Männer konnte gut daneben existieren. Dass dies in Rom, im Unterschied zu Griechenlang, zwar akzeptiert, aber auch verpönt war, ändert nichts an der Tatsache, dass solchen Neigungen nicht selten waren.

Die Angehörigen der Oberschicht konnten sich an Sklaven sowieso schadlos halten, da gab es keinerlei moralische Bedenken. Kaiser Hadrian war Philhellene, ein Freund der griechischen Lebensart, und berühmt wie tragisch ist seine homoerotische Beziehung zu Antinous, seinem Liebling, den er in Bithynien, im damaligen griechisch sprachigen Teil des Imperiums, kennenlernte. Kaiser Trajan hatte Pagen, die er liebte und schätzte. Dass Hadrian als junger Mann mit ihm konkurrierte, soll zweitweise zu Spannungen zwischen ihm und seinem damaligen Vormund geführt haben. Auch Tiberius war Philhellene, nur war dies seinen Zeitgenossen kaum bewusst, weil er sein Auftreten in Rom strikt von dieser Neigung trennte. Darin konnte er geradezu pedantisch sein. Es ist gut möglich, dass auch Tiberius Gefallen an attraktiven jungen Männern fand. Im Gymnasion, wo er sich gern aufhielt, wurde nackt trainiert. Manchmal, so ist es überliefert, trainierten dort auch Mädchen an bestimmten Tagen. Ob das Ausnahmen waren oder ob es an mehreren Orten vorkam, lässt sich nicht mehr nachvollziehen.

Ich entwickle die Idee zu einer Geschichte, in der Tiberius Hauptperson sein wird. Er wird aber auch jemanden kennenlernen. Ob im Gymnasion oder am Strand bzw. auf dem Meer, ist noch nicht entschieden, ob es ein Mann oder eine Frau sein wird, hingegen schon. Ich habe diese Figur schon sehr konkret vor Augen. Und es wird, das steht schon fest, um große Gefühle gehen.

Literatur:

Tonio Hölscher: „Der Taucher von Paestum: Jugend, Eros und das Meer im antiken Griechenland“, Klett-Kotta, 2021, ISBN 978-3-608-96480-6

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