Samstag, 13. November 2021

Tiberius als Intellektueller

Die Claudier waren eine alte Adelsfamilie, und als deren Spross war Tiberius sehr gebildet. Sein leiblicher Vater stand auf der Seite der Cäsarmörder, und während der Proskriptionen flohen seine Eltern mit ihm nach Sizilien und Griechenland. Die Familie wurde in Sparta aufgenommen, wo sie Anhänger hatte. Tiberius war damals zwei Jahre alt und wird sich kaum an die Ereignisse erinnert haben. Doch bestimmt kannte er sie aus Schilderungen Anderer.

Als er drei Jahre alt war, heiratete seine Mutter Livia Octavian, den späteren Kaiser Augustus. Tiberius und sein Bruder Drusus blieben im Hause des Vaters, bis dieser starb. Doch Livia und auch Augustus haben sicher für eine erstklassige Ausbildung der beiden Jungen gesorgt. Als Neunjähriger verfügte Tiberius über die rhetorischen Fähigkeiten, öffentlich die Leichenrede für seinen Vater zu halten.

Sueton berichtet, dass Tiberius die Literatur beider Sprachen (Latein und Griechisch) mit großem Eifer betrieb. Was die lateinische Sprache anging, so war sein Vorbild Valerius Messalla Corvinus, ein bedeutender Schriftsteller und Mäzen, der mit vielen angesagten Dichtern seiner Zeit befreundet war: Horaz, Tibull und Ovid. Dessen Nichte Sulpicia war ebenfalls Dichterin. Tiberius hatte ihn in seiner Jugend „viel gehört“ und man kann annehmen, dass ihm der Künstlerkreis um Messalla gut bekannt war. Messallas Stil galt als gekünstelt, aber viele Kritiker schätzten ihn. Tiberius war, wenn man den Quellen glaubt, auch nicht gerade für seine klare, verständliche Ausdrucksweise bekannt.

Ein Gedicht „Klagegesang über Lucius Cäsars Tod“ soll Tiberius verfasst haben – es war einem der beiden früh verstorbenen Enkel des Augustus gewidmet, eine Geste der Pietät gegenüber dem Schwiegervater und Princeps. Wahrscheinlich war es damals kaum möglich, sich der allgemeinen Trauerbekundungen und Aufarbeitung zu entziehen.

Tiberius schrieb aber auch griechische Gedichte, und seine Vorbilder hießen Euphorion, Rhianus und Parthenius. Euphorion war ein Zeitgenosse, die beiden anderen lebten früher. Der Kaiser schätzte sie so sehr, dass er ihre Werke als Klassiker in die öffentlichen Bibliotheken aufnehmen ließ. Griechisch war in Rom die Sprache der gebildeten, literarisch interessierten Oberschicht.

Sueton schildert, dass sich Tiberius leicht und gewandt in der griechischen Sprache ausdrückte, doch er gebrauchte sie nur in bestimmten Situationen. Vor allem im Senat achtete er strikt darauf, dass Latein gesprochen wurde, und entschuldigte sich selbst ab und an, wenn er Fremdwörter benutzte, die sich schwerlich ins Latein übersetzen ließen. Wenn es sich einrichten ließ, verwendete er Umschreibungen. Niemand kam auf die Idee, ihn mit seiner Zuneigung zum Griechischen zu necken und ihn gar „Graeculus“ zu nennen, wie später Hadrian.

Einem Soldaten, der in griechischer Sprache aufgefordert wurde, als Zeuge vor Gericht auszusagen, verbot er, auf Griechisch zu antworten: er musste seine Aussage in lateinischer Sprache machen. Jenen Vorfall kann man sich in einer der griechisch-sprachigen Ostprovinzen vorstellen.

Als die Senatoren sich wieder einmal opportunistisch verhielten, verließ er die Sitzung und sagte auf Griechisch: „O diese Sklavenseelen!“ Keine offizielle Ansage, aber irgendwer hat mitgehört und die Worte überliefert.

Als Privatmann wird Tiberius oft griechisch gesprochen und zitiert haben. Er schätzte den Umgang mit Gelehrten und mochte es, ihnen knifflige Fragen zu stellen. Die Folge davon war, dass diese sich mitunter bei seinem Kammerdiener nach seiner aktuellen Lektüre erkundigten, um auf solche Fragen vorbereitet zu sein. Als er das herausfand, war er verärgert und soll einen seiner Tischgelehrten zunächst in Ungnaden entlassen und später zum Selbstmord gezwungen haben.

Und es gab ja noch die Zeit des Exils auf Rhodos, zunächst freiwillig. Tiberius ging dort, so ist es überliefert, regelmäßig zu Vorträgen von Gelehrten. Dies und Spaziergänge im Gymnasion waren seine bekannten Beschäftigungen auf der Insel. Man denkt an einen Erholungs-und Bildungsurlaub, aber Tiberius war nicht völlig isoliert: jeder designierte Beamte auf der Durchreise in die Ostprovinzen kam an Rhodos vorbei und stattete dem Stiefsohn des Augustus einen Besuch ab. Diejenigen, die Tiberius nicht mit dem nötigen Respekt behandelten, bekamen später ihren Denkzettel. Der zweite römische Kaiser war nachtragend. Besonders interessierte ihn die Mythologie. Auch auf diesem Gebiet stellte er seine Gelehrten gern auf die Probe. Er nahm die Dinge so ernst, dass er im Senat nach dem Ableben des Augustus ein Opfer durchführte, wie es vom sagenhaften König Minos überliefert war: mit Weihrauch und Wein, aber ohne Flötenbegleitung. Offenbar wurde diese Geste auch verstanden. In anderem Zusammenhang ließ er aber wenig Pietät walten. Als eine Gesandtschaft aus Illium (dem antiken Troja) bei ihm vorsprach und ihm etwas verspätet zum Tod seines Sohnes Drusus kondolierte, sprach er den Leuten sein Mitgefühl anlässlich des Verlustes ihres Mitbürgers Hector aus. Der Trojanische Krieg lag damals länger als tausend Jahre zurück. Die Gesandten, die ja nur höflich sein wollten, müssen einigermaßen fassungslos bei solch unangemessener Ironie gewesen sein. Derartige Auftritte erweckten dann auch den Eindruck, der Kaiser sei gefühllos, sogar im Zusammenhang mit dem Tod seines Sohnes. Dass dem keineswegs so war, wurde deutlich, als Gerüchte entstanden, der Prätorianerpräfekt Seian hätte Drusus vergiften lassen. Tiberius versuchte fieberhaft, herauszubekommen, was geschehen war. Es gab eine Welle von Verhaftungen, Folter und Todesurteilen.

Mit großem Interesse widmete sich Tiberius der Astrologie. Einer seiner engsten Freunde war Thrasyllos, Gelehrter und Astrologe. Sie begegneten einander auf Rhodos, und Thrasyllos blieb bis zu seinem Tod in des Kaisers Umgebung. Auch dieses Thema möchte ich noch vertiefen.

Literatur:

Suetons Kaiserbiographien, Langscheidtsche Bibliothek, Band 106, 1914

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