Freitag, 7. Januar 2022

Hat Tiberius den Koloss von Rhodos gesehen?

Tiberius war noch nicht Kaiser, aber politisch sehr erfolgreich, als er sich für beinahe acht Jahre auf die Insel Rhodos zurückzog. Sein zunächst freiwilliges Exil wird mich noch oft beschäftigen. Eine der ersten Fragen, die ich mir stellte, war die nach seinem Aufenthaltsort, der nicht konkret bezeichnet ist. Wahrscheinlich, so meine Hypothese, war es Rhodos Stadt. Später soll er auch über eine Landvilla verfügt haben.

Tiberius hielt sich zwar weit entfernt von Rom auf, aber Rhodos war durch seinen Hafen – dem von Rhodos Stadt – mit dem gesamten Imperium verbunden. Jeder Beamte, der nach Kleinasien oder Syrien unterwegs war, kam an Rhodos vorbei und konnte Tiberius seine Aufwartung machen. Und Tiberius legte Wert auf solche Gesten. Wurde er von jemandem nicht genügend geachtet, konnte er sehr nachtragend sein.

Der Hafen von Rhodos Stadt war einer der bedeutendsten der Antike. Antike Häfen waren über ihre funktionale Bedeutung hinaus auch Orte der Repräsentation. Oft waren sie von Prachtbauten, vor allem Tempeln, aber auch Säulenhallen und Statuen umgeben, so dass sie beim Herannahen auf Besucher einen bleibenden Eindruck hinterließen. Es gab auch Leuchttürme wie den berühmten Pharos von Alexandria, der zeitweise zu den sieben Weltwundern der Antike zählte. Ebenfalls zu den Weltwundern gehörte der Koloss von Rhodos, eine Kolossalstatue des Sonnengottes Helios, ein besonders beeindruckendes Wahrzeichen der Insel, als sie die Vorherrschaft zur See in der Ägäis innehatte.

Die ca. 31 Meter hohe Bronzestatue wurde nach 305 v. Chr. innerhalb von zwölf Jahren errichtet. Sie war ein Weihgeschenk der Rhodier für ihren Schutzgott. Der Künstler, der die Statue schuf, war Chares von Lindos. Lange Zeit wurde angenommen, dass Helios sozusagen breitbeinig über der Hafeneinfahrt stand – jeweils ein Fuß auf einer Mole – und dass der Sonnengott eine Fackel trug, die als Leuchtfeuer fungierte. Beides gilt heute als ausgeschlossen, es war schlicht nicht umsetzbar. Wo genau sich die Statue befand, ist auch heute noch nicht erwiesen. Wahrscheinlich stand sie auf einer Mole, aber auch andere Standorte werden diskutiert. Fakt ist, dass der Eindruck vom Koloss die Zeit, in der er an seinem Platz stand, weit überdauerte. Nur 56 Jahre nach ihrer Errichtung stürzte die Statue bei einem Erdbeben ein. Nicht nur der Koloss zerbrach, sondern auch die Stadtmauern und der Hafen wurden teilweise zerstört. In einer großen Hilfsaktion wurde damals für den Wiederaufbau gesammelt, aber das Orakel von Delphi riet von einem Neuaufbau der Kolossalstatue ab und somit blieben die Bruchstücke im Hafenbecken liegen, wo sie immer noch bewundert wurden. Es ist gut möglich, dass Tiberius sie dort gesehen hat. Den Koloss in voller Größe hat er allerdings nie erblickt. Im siebenten Jahrhundert sollen Araber nach der Eroberung der Insel die Bruchstücke der Statue geborgen und abtransportiert haben.

Der moderne Mandraki-Hafen befindet sich dort, wo der antike Kriegshafen lag. Rhodos war während der Römerzeit gewiss auch Flottenstützpunkt. Insgesamt hatte Rhodos-Stadt fünf Hafenbecken. Es war nicht der einzige Hafen und nicht die einzige Anlegemöglichkeit auf der Insel. Lindos, die alte Inselhauptstadt, verfügte über zwei natürliche Häfen, und kleineren Schiffen mit wenig Tiefgang war es auch möglich, an Stränden anzulanden.

Ob Tiberius Meerfahrten mochte (wie Trajan), ist nicht überliefert, aber er benutzte Schiffe, um an der Küste Kampaniens entlang zu reisen, und auch von seinem Alterssitz Capri unternahm er Schifffahrten. Die Anreise nach Rhodos scheute er sogar bei ungünstigem Wetter nicht.

Literatur:

Christina Wawrzinek: „Tore zur Welt – Häfen in der Antike“, Zabern-Verlag, 2016, ISBN 978-3-8053-4925-3

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