Samstag, 12. März 2022

Tiberius auf Capri - Bewertung

Wie wurde der Rückzug des Kaisers in Rom bewertet? Als er nach Kampanien reiste, um dort Augustus einen Tempel zu weihen, wurde vermutet, dass er bald sterben würde. Tatsächlich lebte Tiberius noch elf Jahre in freiwilliger Zurückgezogenheit.

Er war von je her kein beliebter Princeps gewesen, überwiegend unzugänglich, ernst, einer, der nicht scherzte und nicht lächelte, dem das Amt charakterlich nicht lag. Denn er war eine öffentliche Person. Von einem römischen Kaiser wurde erwartet, dass er die Senatoren wie Freunde behandelte, sie an seinem Privatleben teilhaben ließ und sich unter ihnen als „Erster unter Gleichen“ bewegte. Tiberius interpretierte den Prinzipat insofern falsch, als er meinte, den Senatoren echte Teilhabe an der Macht geben zu können. Dass dies zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich war, dass die Verantwortung nicht teilbar war, verstanden sogar die Senatoren. Und sie werteten seine Haltung als Heuchelei. Tiberius wiederum war enttäuscht von der Unterwürfigkeit der Senatoren. Aber blieb ihnen etwas anderes übrig? Als Trajan, der mehr als achtzig Jahre nach Tiberius regierte, die Senatoren aufforderte „die Freiheit neu zu gebrauchen“, wie Plinius überliefert, war das lediglich eine Geste, die sich auf Formalitäten bezog. Aber Trajan verstand es, sich öffentlich zu geben, wie es von ihm erwartet wurde. Der Panegyrikus des Plinius kündet davon. Gesten waren sehr wichtig. Mit dem Rückzug nach Capri wandte sich Tiberius vom Senat ab und kommunizierte mit dem Gremium nur noch brieflich. Die Situation mutet auch aus heutiger Sicht grotesk an.

Ähnlich versagte Tiberius im Umgang mit dem Volk. Es wurde erwartet, dass er zugänglich war, sich dem Volk zeigte und Zeit in der Öffentlichkeit verbrachte. Theatervorstellungen und die Spiele im Amphitheater waren Anlässe, wo Kaiser und „sein“ Volk, das Volk von Rom, zusammentrafen. Es wurde auch erwartet, dass der Kaiser in der Öffentlichkeit ansprechbar war. Tiberius mag sich schon in Rom nicht durch Leutseligkeit ausgezeichnet haben, aber mit seinem Rückzug nach Capri brach er mit dem Patronats/Klientenverhältnis, das der römische Kaiser mit dem Volk pflegen musste. Diese Besonderheit gehörte zum Funktionieren der damaligen Gesellschaft. Tiberius hatte auch sein Volk verlassen. Kein Wunder, dass man ihn zu hassen begann – wegen der vielen Todesurteile in seinen letzten Jahren und wegen seiner Abwesenheit. Das war dann auch der Nährboden für all die Gerüchte, was Tiberius angeblich auf Capri trieb.

Während der Regierungszeit des Tiberius ereigneten sich mehrere außenpolitische Krisen. Doch er begab sich nicht mehr selbst in die Krisenregionen, sondern sandte seinen Sohn und seinen Adoptivsohn. Dabei hätte er in solchen Situationen Präsenz zeigen können, denn er konnte auf beachtliche militärische Erfolge zurückblicken und seine Autorität als Heerführer einsetzen, um allgemein zu punkten. Er versäumte es also auch, persönlichen Kontakt zu Soldaten und Offizieren herzustellen, als es sinnvoll gewesen wäre. Hätte es bei der Entmachtung seines Präfekten Sejan – ich greife etwas vor – Probleme gegeben, wäre Tiberius von Capri aus in eine Provinz geflohen, in den Schutz seiner Truppen, denen er offenbar noch vertraute.

Tiberius hat die Herrschaft über das römische Reich übernommen, aber er hat sich diesem Amt nicht angepasst. Er blieb derjenige, der er war. Vermutlich war er zu einer solchen Anpassung nicht fähig. Er litt unter dem Klima in Rom, den Intrigen, der öffentlichen Schauspielerei, unter der Zerrüttung seiner Familie, der Einmischung seiner Mutter Livia und mehreren persönlichen Schicksalsschlägen. Als sein Sohn Drusus starb, hatte er auch seinen potentiellen Nachfolger verloren. Er war desillusioniert und amtsmüde. Schon in der Vergangenheit hatte er durch Teilausstiege aus dem politischen Leben auf Krisen reagiert. Sein Rückzug nach Capri war vermutlich für ihn der einzige Weg, sein Amt weiter auszuüben. Er regierte von der Insel aus und behielt sein Imperium unter Kontrolle. Tiberius blieb ein ambivalenter Herrscher, verantwortungsvoll, aber kein angenehmer Vorgesetzter. Ruhe und Frieden hat er auf Capri wohl auch nur zeitweise gefunden. Hätte es anders sein können? Eine Geschichte, die zumindest eine Möglichkeit aufzeigt, wie es anders hätte verlaufen können, möchte ich erzählen.

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