Sonntag, 4. Juni 2023

Seian auf dem Höhepunkt der Macht

Als Livia im Jahr 29 starb, dauerte es nicht lange, und die Situation eskalierte. Tiberius hatte eine Grenze überschritten, als er nicht zur Trauerfeier für seine Mutter in Rom erschien. Ein solches Zeichen der Pietät hätte er setzen müssen, auch wenn das Verhältnis zwischen ihnen immer problematisch war.

Tiberius war noch rigoroser als zuvor und gleichzeitig amtsmüde. Er hatte schon daran gedacht, die Konsuln mit der Leitung des Staates zu betrauen. Seian war sein Stellvertreter in Rom. Und er nutzte die Situation aus, um seine Macht auszubauen.

Die Heirat mit Livilla, der Witwe des Drusus, hatte Tiberius abgelehnt. Möglicherweise machte sich Seian doch für die Zukunft Hoffnungen. Aber Agrippina, die Gattin des verstorbenen Germanicus, und ihre beiden älteren Söhne Nero und Drusus waren ein Hindernis für Seian. Wahrscheinlich nahm er den Kaiser gegen sie ein. Bemerkenswert ist, dass weder Nero noch Drusus, sondern der jüngere Bruder Caligula die Trauerrede für Livia hielt.

Agrippina und Tiberius hatten sich nie gut verstanden. Sie war eine selbstbewusste, couragierte Frau, die öffentliche Auftritte nicht scheute. In Germanien hatte sie sich in die Kriegführung eingemischt und verhindert, dass im Zuge der Kämpfe mit den Germanen die Rheinbrücke zerstört wurde. Dadurch erst konnten sich der Befehlshaber Caecina und seine Truppen auf das linke Rheinufer zurückziehen. Trotzdem sprach Caecina sich später im Senat dagegen aus, dass Statthalter ihre Frauen mit in die Provinz nahmen. Vielleicht wollte er damit Tiberius schmeicheln. Aber dieser Vorstoß war nicht erfolgreich. Tiberius selbst war konservativ und mochte es nicht, wenn Frauen aktiv in die Politik eingriffen. Agrippina hatte ihm und Livia indirekt die Schuld am Tod ihres Mannes gegeben. Sie verhielt sich dem Kaiser gegenüber äußerst unklug, als sie am Gastmahl von ihm kein Essen annahm und ihn somit des versuchten Giftmordes beschuldigte, was Tiberius auch offen ansprach.

Seian mag Agrippina provoziert haben, so dass sie Unvorsichtigkeiten äußerte, und ebenso gerieten die beiden älteren Söhne in die Intrigen hinein. Tiberius ließ alle drei wegen einer Verschwörung vor dem Senat anklagen und verurteilen. Agrippina wurde auf die Insel Pandateria verbannt. Als sie dagegen protestierte, ließ der Kaiser sie auspeitschen, wobei sie ein Auge verloren haben soll. Im Jahr 33 starb sie auf der Insel den Hungertod. Nero Caesar starb im Jahr 31 durch Suizid auf der Insel Pontia. Sein Bruder Drusus wurde in Rom auf dem Palatin eingesperrt, nachdem er wie seine Mutter und Nero zum Staatsfeind erklärt worden war. Er verhungerte zwei Jahre später im Kerker. Was für ein Albtraum!

Seian mag all das forciert und vollstreckt haben, doch die Verantwortung für die Todesurteile trug Tiberius. Er hätte gegenüber seiner Familie Sorgfalt walten lassen und die Interessen der Dynastie berücksichtigen müssen. Doch er war müde und verbittert und war dies alles leid. Und so hatte Seian ein leichtes Spiel. Ein Beobachter von außen musste sehen, wie sich alles im Interesse Seians entwickelte, wie er mächtiger und mächtiger wurde. Waren die letzten Lebenden in der Familie überhaupt noch sicher? Und war es der Kaiser selbst? Wie weit würde Seian gehen?

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